MARTIN PARR 1952-2025
„Martin Parr hat diese Welt verlassen!
Ich bin sehr traurig, mein lieber Freund! Aber ich glaube, der Auftrag, den Himmel in den leuchtendsten Farben zu fotografieren, die je gesehen wurden, war einfach zu verlockend!
Wir werden die Tage mit dir in Baden nie vergessen!
Ruhe in Frieden, lieber Martin!“
Lois Lammerhuber
Direktor Festival La Gacilly-Baden Photo
Martin Parr (1952–2025) starb am 6. Dezember 2025 in seinem Haus in Bristol.
Ein Nachruf von Markus Schaden (DGPh)
Am 6. Dezember 2025 ist in Bristol ein Fotograf gestorben, dessen klarer, humorvoller und präziser Blick die Arbeit einer ganzen Generation von Bildautor:innen, Kurator:innen und Fotobuchmacher:innen nachhaltig geprägt hat.
Martin Parr – von der DGPh 2006 mit dem Dr. Erich Salomon-Preis der DGPh ausgezeichnet – war mehr als ein Fotograf; er war Seismograph und Menschenforscher, ein Chronist des Alltags, der uns die Wirklichkeit oft erst zumutbar machte, indem er sie überhöhte. Ich erinnere mich gut an die Jahre, in denen die DGPh und viele von uns selbst darum rangen, die Fotografie neu zu verorten. Und dann kam dieser Engländer, der mit einem halben Lächeln und seinen radikal übersteigerten Farben zeigte, wie man die Dinge ernst nimmt, indem man sie nicht zu ernst nimmt.
Was Thomas Weski 2006 in seiner Laudatio zum DGPh Dr. Erich Salomon-Preis formulierte, habe ich immer wieder erlebt: Parr verfügte über seltene Geduld, eine Hartnäckigkeit des Beobachtens, die sich tief in jede Phase seines Werks eingeschrieben hat. Die frühen Erfahrungen in der Dunkelkammer, der amateurfotografierende Großvater, der Entschluss, dass Fotografie kein Beruf, sondern Lebensform sei – all das führte zu jenem unverwechselbaren Stil, der aus dem britischen Regen, aus Ferienlagern, Kirmesbuden und Tupperware-Partys ein visuelles Vokabular schuf, das bis heute unerreicht bleibt. Als Parr mit Bad Weather zu Beginn der 80er Jahre erstmals stärker wahrgenommen wurde, wusste man noch nicht, dass er gerade die Grenzen der klassischen Street Photography verschob. Als er kurz darauf in Farbe arbeitete, schuf er, inspiriert von John Hindes Postkartenästhetik, eine Bildsprache, die das Künstliche und das Reale unauflöslich miteinander verband. Für viele von uns war The Last Resort, diese schillernde, brutale, zutiefst menschliche Studie des britischen Strandlebens, ein Schlüsselmoment. Nicht weil Parr „gegen“ die gezeigten Menschen arbeitete – sondern weil er mit einer Schonungslosigkeit arbeitete, die nichts anderes verlangte als Anerkennung dessen, was ist. Dass man ihm Zynismus vorwarf, war insofern fast ironisch, als sein Humor immer Ausdruck einer tiefen Zugewandtheit war.
In den 80er Jahren wurde Parr zum Chronisten einer neuen britischen Mittelklasse, die sich gerade selbst erfand. Seine Serie The Cost of Living dokumentierte Aufstieg, Unsicherheiten und Rituale dieser Gruppe, ohne den moralischen Abstand, den man damals von Dokumentarfotografen erwartete. Parr war nie Moralist, sondern Analytiker – einer, der zeigte, was sichtbar ist, ohne es zu verklären. Für uns in der Fotobuchszene war Parr ohnehin ein überragender Fixpunkt. Gemeinsam mit Gerry Badger veröffentlichte er The Photobook: A History und schuf damit ein Werk, das die Wahrnehmung des Fotobuchs weltweit veränderte. Er sortierte, ordnete, interpretierte – und brachte zugleich eine ganze Generation dazu, das gedruckte Bild mit neuer Ernsthaftigkeit zu betrachten. Dass die Preise vieler erwähnter Titel anschließend explodierten, war ein Nebeneffekt, den Martin mit seinem typischen Schulterzucken quittierte.
Seine eigene fotografische Praxis entwickelte sich in Bristol weiter, wo er einen direkten, unverstellten Blick auf sein Umfeld pflegte. Wahlkampf, Wohltätigkeitsveranstaltungen, Familienfeste, Reisebusse, Automobilkultur – Parr fand seine Themen dort, wo die Gesellschaft sich selbst performt. Seine Farbpalette wurde dabei zu einem Charakter für sich selbst: jenes berühmte Parr-Rot, das irgendwo zwischen Kitsch, Pop und Erkenntnis liegt. Trotz der zunehmenden Popularität blieb Parr unbequem. Sein Beitritt zu Magnum war 1994 ein umstrittenes Ereignis, weil viele seine Arbeitsweise nicht mit dem humanistischen Erbe der Agentur vereinbar fanden. Dass Magnum letztlich ihn annahm und nicht umgekehrt, sagt viel über den notwendigen Wandel dokumentarischer Bildsprachen.
Parr war nicht nur Fotograf, sondern auch Filmemacher, Sammler – und ein unermüdlicher Arbeiter. Seine Faszination für „boring postcards“ war legendär und zeugte von einem Blick, der das Alltägliche nicht nur sichtbar, sondern kostbar machte. Als Lehrer und Kurator war er prägend, und viele, die heute das Fotobuch oder die Dokumentarfotografie weiterentwickeln, tun dies auf Wegen, die Parrs Arbeit geöffnet hat. Für mich persönlich war Parr jemand, der mit größter Selbstverständlichkeit die Grenzen der Fotografie infrage stellte und gleichzeitig ihre Bedeutung verteidigte. Er zeigte uns, dass man die Welt erst verändern kann, wenn man sie so akzeptiert, wie sie ist. Sein Humor war nie bloß Witz, sondern Methode: eine Art, sich mit den Zumutungen des Lebens zu versöhnen.
Mit Martin Parr verlieren wir einen Künstler, der uns beigebracht hat, dass das scheinbar Lächerliche oft die präziseste Form der Wahrheit ist. Seine Bilder begegnen uns überall wieder, weil sie Teil unserer eigenen visuellen Biografie geworden sind. Sie erinnern uns daran, dass man über die Welt lachen darf – vielleicht sogar muss –, um sie zu begreifen. Martin sah die Menschen, wie sie sind, und genau deshalb liebte er sie. Er war in seiner Übertreibung ernst, in seiner Ironie liebevoll und in seinem Blick radikal. Und so bleibt er für mich: der letzte Romantiker der dokumentarischen Fotografie.
Farewell, Martin!
Markus Schaden (DGPh)
Markus Schaden ist Fotobuch-Pionier, Kurator und Mitbegründer des PhotoBookMuseums, der seit Jahrzehnten die fotografische Kultur in Deutschland und international prägt. Aktuell ist im Neuen Museum Nürnberg die Ausstellung und Fotobuchretrospektive Grand Hotel Parr zu sehen, kuratiert vom PhotoBookMuseum (Frederic Lezmi, Christoph und Markus Schaden); sie läuft noch bis zum 22. Februar 2026.
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